Hortenburg

    Es geht ihm auf die Nerven, das Knacken hinter seinem Rücken. Er hat schon versucht nachzusehen, was es war, doch vergeblich bemühte er sich. Er konnte seinen Hals nicht so weit drehen. Was ist es? Vergeblich zog er auch an den Rädern des Rollstuhles. Bestimmt haben sie sich zwischen den Kieselsteinen festgeklemmt, und er ist nicht in der Lage, sie auch nur zu bewegen. Er hört damit auf sich abzumühen. Sarah sagte vor Kurzem, dass die Flecke auf den Ärmeln des Umhanges von den schmutzigen Rädern herrührten. Jawohl, so kurz nach dem Winter sind die Wege feucht und die Räder verschmutzen leicht. Noch ist es kalt, wieder und wieder fängt es an zu regnen. Doch man braucht frische Luft. Das Knacken ist störend. Kann sein, ein Strauch raschelt hinter ihm, vielleicht hüpft ein Vogel darauf. Aber nein. Vögel sind nicht so beharrlich. Vielleicht ist ein Zweig abgebrochen und der Wind schlägt ihn gegen andere. Oder fällt von dem Baum hinter ihm etwa dauernd etwas auf den Strauch? Etwas Undefinierbares.
    Das heutige Programm ist Hortenburg. Die Straßen, die Plätze, die Türme, die Denkmäler und so weiter. Alles dies zu bedenken wird eine Stunde dauern. Bis sie wieder zum Leben erwachen und sich harmonisch wie eine geografische Karte zusammenfügen, oh, bis dahin wird eine reichliche Stunde verflossen sein. Und die Bekannten. Doch noch hat er keine Lust anzufangen. Das Knacken hinter ihm macht ihn nervös.
    Aufrichtig gesagt wäre es viel angenehmer zu lesen, dachte er. Doch Sarah sagte, er könne nicht immer zu lesen. Es gehe nicht, jeden Tag zur Bibliothek zu laufen, um neue Bücher auszuleihen. Sie hat recht, und das dauernde Lesen schadet den Augen. Gut ist es, den Blick auf dem See ruhen zu lassen, wenn er auch nicht so schön ist wie im Sommer. Er ist fahl, spiegelt den grauen Himmel wider.
    Nun ist es zehn nach elf, bis zwei Uhr bleiben ihm noch fast drei Stunden. Sie werden für Hortenburg genügen.
    Kinder kommen. Es ist kurios. Normalerweise gehen sie hier nicht spazieren. Seltsame Kinder. Es ist in ihnen etwas Beängstigendes. Weshalb? Weil jedes den gleichen Mantel trägt? Wie Soldaten? Unwahrscheinlich.
    Sie kommen hier an. Na also! Die Kinder sind immer geneigt Krach zu machen, doch diese marschieren stumm. Sie richten ihren Blick fest auf ihn, schreiten vorsichtig aus, mit gespannter Miene. Sie machen einen dümmlichen Eindruck. Sind es Taubstumme? Unmöglich. Hier, in der Umgebung, gibt es nirgendwo eine Einrichtung für Behinderte. Vielleicht überredete die Kindergärtnerin sie mit irgendeinem Trick, nicht miteinander zu reden. Wenn das Schweigen unterbrochen wird, ist es schade, doch noch viel größer ist der Schaden, wenn man Kinder zum Schweigen bringt. Vielleicht aber spielen sie, ein Feind sei in der Nähe und man müsse dieses Gebiet schleichend passieren. Nun ja, aber auch die Kindergärtnerin selbst geht sehr vorsichtig und beobachtet mit Argusaugen die Umgebung. Sie spielt mit ihnen.
    Es sind achtzehn. Neun Paare. Was geschähe, wenn es neunzehn wären? Wie würde die Kindergärtnerin sie dann einreihen? Wenn sie Zweierreihen bilden würde, müsste ein Kind allein gehen. Sogar, wenn es Dreierreihen wären, bliebe eins allein Gewiss würde dieses eine zum militärischen Anführer ernannt.
    Seltsam sind ihre starren Blicke. An was erinnern sie ihn? Ja, tatsächlich, an das Panoptikum im Schaustellerpark. Gott weiß vor wie vielen Jahren. Dort stand unter den vielen muffigen Gestalten die Wachsfigur eines Raubmörders. Er erinnert sich schon nicht mehr an den Namen des Raubmörders. Ja, der war schon damals eine Berühmtheit aus fernen Zeiten. Doch gerade dieser Verbrecher hatte so einen verwunderten und doch starren Kinderblick. Wenn er sich richtig erinnerte, hatte dieser Kerl einen karierten Anzug an. Das Panoptikum war langweilig gewesen. Als er damals aus der Stille des Panoptikums hinaustrat, in den Straßenlärm hinein, hüpften in Augennähe auf einem Podium zwei zerlumpte Clowns herum. Eine Menschenmenge umgab sie.
    "Väterchen - lalla! Ob - lalla mitbrattis - lalla Essessen - lalla?"
    "Ich - lalla nicht brattis - lalla."
    "Warum - lalla du nicht brattis - lalla Essessen - lalla - lalla?"
    Sie hatten dünne verbrauchte Stimmen. Tatsächlich, die mussten sie haben. Einstündige Vorstellungen während des ganzen Tages, bis zum Abend. Gott weiß wie viel sie schreien mussten. Dieses Gehüpfe draußen auf dem Podium war wohl ein Vorspiel gewesen, um der Menge Lust auf das zu erwartende Vergnügen im Innern, in dem Panoptikum, zu machen.
    Er müsste mit Hortenburg anfangen. Gibt es einen Schaustellerpark in Hortenburg? Vielleicht, doch er hatte ihn nicht gesehen. Wie sagt man es auf Deutsch richtig?
    Väterchen - lalla? Oder Vaterlein? oder Vaterlein - Bein? Unsinn. Deutsche Gaffer brauchen solche Spektakel nicht.
    Herr Remenik nähert sich. Als er die Wegkurve erreicht, grüßt er ihn, den Hut langsam und ernst hebend:
    "Ist es Ihnen nicht kalt?"
    " Das macht nichts."
    Herr Remenik bleibt stehen und brennt sich eine Zigarrette an.
    "Lieber Herr Remenik, bitte schauen Sie einmal, was da hinter meinem Rücken ist. Irgendetwas knackt da so seltsam. Ob es ein Strauch ist oder etwas Ähnliches?"
    "Nichts ist da."
    "Zum Teufel noch mal! Was kann es sein?"
    "Kinder spazieren hier", sagt Herr Remenik. "Waren sie es nicht, die hier herumtollten?"
    "Nein. Sie marschierten vor mir, auf dem Weg."
    "Nichts ist da."
    Leichter Regen setzt ein. Das Knacken ist nun nicht mehr zu hören. Er kann es Herrn Remenik nicht zeigen. Doch irgendetwas ist ja bestimmt dort.
    "Gestern sind Sie nicht gekommen, Herr Remenik."
    "Ich bin ins Dorf gefahren... ist es nicht schädlich für Sie, wenn Sie nass werden? Soll ich Sie von hier wegrollen? Unter ein Dach."
    "Es macht nichts. Ich habe einen Lederhut und mein Mantel ist wasserabweisend, wird behauptet."
    "Ja..."
    "Ich kann hier auch nicht weg, weil Sarah nicht wüßte, wo sie mich suchen soll."
    "Ja."
    "Seltsam waren die Kinder vorhin. Haben Sie bemerkt, Herr Remenik, dass sie stumm marschiert sind? Obwohl Kinder immer etwas zu erzählen haben, wenn sie in Reih und Glied spazieren."
    "Ja."
    "Sie haben Krieg gespielt. Was denken Sie?"
    Herr Remenik bedenkt die Antwort. "Kann sein, im Normalfall gehen sie gewöhnlich auf der inneren Allee. Es ist möglich, dass sie Krieg spielten."
    Nun bläst der leichte Wind die Regentropfen in sein Gesicht, unter den Hut. Er müsste den Kragen hochschlagen.
    Irgendwo schlägt eine Turmuhr 11.30 Uhr. Noch zweieinhalb Stunden. Er sitzt hier schon eine halbe Stunde und hat noch nichts erledigt bezüglich Hortenburg. Das heutige Programm: Hortenburg. Morgen: die Brüder Karamasow, übermorgen die Gemälde in der Matthiaskirche. Und was hinterher? Er weiß es nicht. Er wird in den Kalender sehen müssen, wo er die Programme notierte. Doch jetzt hat er nicht die geringste Lust auf Hortenburg.
    "Waren Sie schon im Ausland, Herr Remenik?"
    "Ja, im Krieg."
    "Das ist keine gute Sache."
    "Gewiss nicht. Und Sie?"
    "Ich? Ich war doch schon oft dort: in Deutschland, Frankreich, Italien; ich habe sogar Napoleon schon gesehen. Gewöhnlich sagt man: Napoleon sehen und sterben. Und Sie sehen, ich lebe noch."
    "Ja, aber ich muss schon wieder gehen. Man erwartet mich an der Brücke. Auf Wiedersehen."
    "Auf Wiedersehen, Herr Remenik."
    Er hat nicht die geringste Lust auf Hortenburg. Lieber noch ein ganz klein wenig im Schaustellerpark bleiben. Er hatte diesen nicht zu oft gesehen. Vielleicht sechs - oder achtmal. Einmal geschah es, dass er hinter den Schaustellerbuden herumstrolchte. Eine Frau stand dort, sich an den Türpfosten lehnend, sie rauchte eine Zigarrette. Sie trug ein langes weitärmliges Gewand. Es war ein seltsamer Anblick, zwischen den schäbigen Bretterwänden diese Frau im pompösen Gewand. Sie war die berühmte Wahrsagerin. "Was suchst du hier, Bube?"
    "Ich laufe hier so herum."
    "Dann hau ab hier, aber schnell, sonst trete ich dir in den Hintern!"
    Es war eine Überraschung solche profanen Worte aus dem Munde der berühmten und eleganten Frau zu hören, einer Frau, aus der das Geheimnis strahlte
    Die Wahrsagerin erinnerte ihn irgendwie an Silvia. Weder ihr Gesicht, noch die Statur, doch vielleicht die Art, wie sie sich an den Türpfosten lehnte und rauchte. Auch Silvia stand ab und zu an der Tür der Veranda, rauchte und summte das Lied:
    Oh, Fräuleins, oh, Mädchen,
    wunderschöne Engel.
    Burschen kommen aus der Kneipe,
    verrückte Teufel...
    Sie sang es immer.
    Als er ein Junge war, brauchte er Silvia nicht Fräulein oder Tantchen nennen. Nur einfach Silvia. Viele Male unternahmen sie zusammen Radausflüge.
    Es passierte einmal, dass er allein im Innenzimmer saß und in der Dunkelheit vor sich hin träumte. Im Nachbarzimmer ging eine Lampe an. Auf dem durchscheinenden Schleiervorhang erschien die Silhouette von Silvia. Eine Zeit lang lief sie hin und her, danach begann sie sich genau vor dem Vorhang auszukleiden. Sie legte die Kleider mit schönen, graziösen Bewegungen ab, behaglich, sich an der Einsamkeit erfreuend.
    Oh, Fräuleins, oh Mädchen,
    wunderschöne Engel...
    Er konnte seinen Blick nicht vom Vorhang abwenden, starrte angespannt auf das Silhouettenspiel. Als Silvia schon ganz nackt war, erstarrte sie, als verwandelte sie sich in eine Statue. Doch warum stand sie da? Das ahnte er erst am nächsten Tag. Silvia stand vor dem Spiegel und genoss nackt ihr eigenes Spiegelbild. Sie hatten einen doppelten Genuss. Silvia und er. Nach einigen Tagen erzählte er Silvia von der Sache. Sie lachte nur. "Ach, du Dummkopf, warum hast du mir nicht zugeschrien. Für dich hätte ich sogar vor dem Vorhang getanzt!"
    Ein anderes Mal beobachtete er wieder heimlich Silvia. Sie lag im Sonnenlicht und las ein Buch. Sie bemerkte den Jungen nicht, der sie gierig anstarrte. Plötzlich schloss sie das Buch und ließ das Gesicht auf die Arme fallen. Er glaubte, Silvia weine. Doch plötzlich hob sie den Kopf, küsste ihre Arme und biss wild in sie. Auf ihrem Gesicht erschien ein Ausdruck, den er niemals zuvor gesehen hatte.
    Er muss auch solche Dinge in das Programm einlegen. Silvia und den Schaustellerpark und die Clowns und ähnliche Dinge. Nicht nur Hortenburg und die Brüder Karamasow und so weiter. Er braucht auch Silvia.
    Wieder war das Knacken von hinten zu vernehmen. Der Teufel hole Herrn Remenik, warum beobachtete er nicht besser, was es sein kann. Irgendetwas muss dort sein. Er müsste sich unbedingt umdrehen, doch wenn er zu sehr versuchte, würden gewiss die Ärmel seines Umhanges beschmutzt. Sarah würde wütend sein. Er zwingt sich, nicht an das Knacken zu denken. Lieber zurück zu Silvia vor den Spiegel.
    Auch er selbst hatte ein Abenteuer mit einem Spiegel. Das geschah, als er ein Junge war. Man schickte ihn wegen irgendeiner Sache zu Herrn Kornides. In dessen Haus im Treppenaufgang an der Wand hing ein großer Spiegel. Mag sein, dass es eine Art Anfall war, als er vor dem Spiegel anfing eine Rolle zu spielen, die ein stummes Echo hervorrief. Er feilschte mit wilden Gesten: "Glaubst du mir nicht, Kanaille?! Glaubst du mir nicht?" Er schrie mit halber Stimme, mit entblößten Zähnen. Er schnitt Grimassen, dann spielte er den Sichberuhigenden, höflich verbeugte er sich und sagte: "Vielleicht sehr bald, werter Herr". Und als auch das ihn dann langweilte, richtete er den Blick so starr und bedrohlich auf die eigenen Augen, dass er sich selbst zu fürchten begann.
    In diesem Moment sprach ihn jemand leise an: "Was machst du da, Junge? Bist du verrückt geworden?" Die Mutter von Herrn Kornides stand neben ihm auf dem roten Teppich. Unmöglich zu beschreiben, was er fühlte. Er wäre lieber weggelaufen oder in den Erdboden versunken, hätte sich am liebsten in ein Nichts aufgelöst. Er nahm das Urteil in den Augen der alten Frau wahr, dass ihn von diesem Moment an alle für einen Kretin halten werden, für immer.
    Und es geschah noch etwas Ähnliches. Mit Professor Peter... Oh, nein. Das ist furchtbar. Daran zurückzudenken ist unmöglich. Dann schon lieber Hortenburg.
    Der Regen ist nun schon stärker geworden. Doch der Wind hat sich gelegt, bläst die Tropfen nicht mehr in sein Gesicht. Es ist angenehm zu lauschen wie der Regen auf seinen Hut tropft und zu sehen, wie er sich mit kalten Nadeln in die Erde spießt. Wenn der Regen aufhört, wird Sarah bestimmt früher kommen. So wird er nicht bis zwei bleiben müssen, und das wäre ein Gewinn.
    Aber letzten Endes muss er doch mit Hortenburg anfangen. Zuerst die Straßen: Pilgramstraße, Gustav-Adolf-Straße, Pulnerstraße... dort ist der Laden, in dem man allen möglichen überflüssigen Krempel verkaufte: kleine Erinnerungsgeschenke, Postkarten, verzierte Messer und so weiter...
    Väterchen - lalla. Ob - lalla mitbrattis - lalla Essessen lalla - lalla?
    Danach die Herrengasse, wo sich der Gasthof Zum Tor befindet; dort kann man die beste Zwiebelsuppe in der ganzen Stadt essen... na, und das andere Restaurant, der Schwarze Adler. Doch den Namen des Gäßchens hatte er schon vergessen, den Namen der schmalen Gasse, auf der entlang man den Rosenplatz erreicht. Nun die Heilige Klothildstraße entlang bis zum Ende, und dazwischen der Reihe nach die Seitenstraßen aufsagen. Genau am Anfang war der Delikatladen von Schulz. Oh, ja, Schulz. Wenn man in den kühlen Raum hineinging, roch man gleich den Duft von Kaffee, von Käsesorten, von verschiedenen marinierten Fischen, einer Unmenge von Gewürzen und geräuchertem Fleisch. Man musste gleich irgendetwas in den Mund stecken. Ja, ja, Schulz.
    Oh, Fräuleins, oh, Mädchen,
    wunderschöne Engel...
    Ja, ja. Notwendig sind auch Silvia, und auch der Schaustellerpark. Er muss auch solche Programme machen. Und vielleicht wird es ihm gelingen das Ereignis mit Professor Peter zu vermeiden, und das bei Herrn Kornides.
    Also, aber nun weiter mit Hortenburg.
    Die Heilige Klothildstraße. Die erste Seitenstraße... welche war es? Hol's der Teufel, es scheint so, als ob Hortenburg ein Fiasko würde.
    Burschen kommen aus der Kneipe,
    verrückte Teufel...