Der Radfahrer, der den Weg verlor

     Ich ging los am zweiten März, genau um 7 Uhr und 20 Minuten. Mein erster Gedanke war, mit dem Bus zum Bahnhof zu fahren. Doch als ich durch den Hof meines Hauses schritt, liebkoste mich der friedliche und reine Morgen und ich beschloss lieber mit dem Fahrrad zu fahren. Selbst bei langsamer Fahrt ist der Bahnhof in weniger als einer Stunde erreichbar, und mein Zug fuhr erst um 8.40 Uhr ab. Ich hatte also mehr als genug Zeit.
    Ich liebe das Warten vor der Abfahrt, wenn man nichts tun kann. Darum komme ich gern frühzeitig auf dem Bahnhof an, suche mir einen bequemen Platz im Zug aus und lausche dem Stimmengewirr der Ankommenden. Es ist für mich wie das Plaudern des Publikums vor dem Theaterstück oder wie das Einstimmen des Orchesters vor einem Konzert.
    Ich brannte mir eine leichte Zigarrette an und schob das Rad auf die Straße hinaus. Mit gemessenen Schritten ging ich auf die gegenüberliegende Straßenseite und setzte mich dort auf das Rad. Vor mir lag ein langer gerader Weg, der sich zum Umschauen eignete, obgleich sich so früh auf der menschenleeren Straße wohl kaum etwas Besonderes finden wird. Ich vergnügte mich an den vibrierenden Pfützen auf dem Asphalt, die die Farbe des Himmels märchenhaft blau widerspiegelten. Nachts hat es bestimmt in Strömen geregnet. Deshalb ist die Luft so erregend frisch. Unter mir ächzte der Fahrradsitz im Takt der Pedalentritte. Dieses kurze wiederkehrende Geräusch machte mir das Radfahren am stillen Morgen noch angenehmer. Es verging kaum eine Viertelstunde meiner Fahrt, richtiger gesagt, vergingen genau siebzehn Minuten, ehe ich bemerkte, dass ich den Weg verloren hatte. Jawohl, meine Armbanduhr zeigte gerade auf 7.37 Uhr, als die Straße mir auf einmal völlig unbekannt vorkam.
    Bisher hatte ich nie nachgezählt, auf der wievielten Seitenstraße ich weiter fahren muss, um den Bahnhof zu erreichen, und doch habe ich ihn immer gefunden. Weiß der Teufel wie, bisher ist mir das immer geglückt. Ob das Aussehen der Häuser mir den Weg wies? Doch jetzt, wo ich versuche mich zu erinnern, kann ich in mir nicht ein einziges Bild der Häuser wachrufen, das mir den Weg zeigen würde. Ich denke, es ist eine Art Instinkt, der mich gewöhnlich auf den richtigen Weg führt. Heute, am zweiten März, verriet mich dieser Instinkt und ich verlor den Weg. Es ist möglich, dass ich die Seitenstraße übersehen habe, die mich hinleiten würde. Deshalb fuhr ich nach einigem Zögern wieder zurück. Ich musste den Hang hinauffahren, so dass mir das Pedalentreten schon nicht mehr so leicht und angenehm vorkam wie bisher. Als ich auf der Straße zurückfuhr, schienen mir die Häuser noch unbekannter als zuvor. Ja, in dieser Richtung bin ich noch nie gefahren. Die Häuser, die ich bis jetzt auf der rechten Seite gesehen hatte, die mir auch da schon unbekannt vorkamen, erschienen mir nun von der anderen Seite aus betrachtet völlig fremd. Das regte mich auf. Was sollte ich tun?
    Sollte ich nach Hause fahren, um auf dem Weg wieder von vorn anzufangen, oder sollte ich jemanden nach der Richtung fragen?
    Ich wählte Letzteres, obzwar ich zweifelte, auch nur einen einzigen Menschen zu finden, da die Straße, wie ich schon sagte, völlig menschenleer war. Schließlich entdeckte ich einen verknöcherten dürren Alten mit hohem schwarzen Hut. In den Händen trug er einen Beutel und einen weißen Krug. Vielleicht ging er Lebensmittel einkaufen.
    "Verzeihen Sie, mein Herr!", sprach ich ihn an. "Es scheint so, als hätte ich den Weg verloren. Seien Sie so gut und erklären Sie mir bitte, wie ich zum Bahnhof komme.
    Er war so überrascht, dass er vor Glück strahlte. "Sie können sich überhaupt nicht vorstellen, was für ein Glück Sie haben. Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle." Er sagte seinen Namen und fuhr dann fort: "Ich bin pensionierter Eisenbahnhauptbeamter, ob Sie es glauben oder nicht, und als ich noch arbeitete, war ich in einem Fahrplanbüro angestellt, bis zum letzten Tag. So kann ich Ihnen präzise und detailliert erklären, was Sie auch immer wissen wollen. Na, was sagen Sie dazu? Ist das nicht ein seltsames Zusammentreffen? Sie haben zufällig ausgerechnet einen Eisenbahner über die Eisenbahn befragt. Und, ich muss hinzufügen, dass weniger als ein halbes Jahr seit meiner Pensionierung vergangen ist. Darum habe ich den ganzen Fahrplan im Kopf. Einschließlich auch der Sommerfahrpläne, die ich mindestens zweieinhalb Monate lang außer Acht lassen kann, da die Sommerfahrpläne, wie Sie wissen, erst ab Mitte Mai gültig sind. Nun, wohlan! Ich stehe zu Ihrer Verfügung, mein lieber Herr!"
    "Bezüglich des Fahrplanes habe ich keine Probleme", sagte ich, "ich wüßte nur gern Folgendes: "Hier in der Nähe muss ein Bahnhof sein. Wie kann ich ihn erreichen?" "Na, na! Einen Moment bitte." Er hob den Zeigefinger: "Wenn Sie in unserer Stadt wohnen, müssten Sie wissen, dass es hier nicht nur einen Bahnhof gibt! Bitte, vielleicht sagen Sie mir das Ziel Ihrer Reise. Dann kann ich Ihnen eine ganz genaue Erklärung geben."
    Ich sagte ihm mein Reiseziel, wenn auch der Wortschwall des Alten mich zu ängstigen begann.
    "Na, sehen Sie!", brüllte er lebhaft los. "Da ist schon das Problem bezüglich des Fahrplanes. Sie, mein lieber Herr, sind ein wenig zu früh, viel zu früh los gegangen. Der nächste Zug - wenn ich auch die Möglichkeit einer Fahrplanänderung in Betracht ziehe, die nie außer Acht gelassen werden darf - fährt erst 13.20 Uhr, und er wird vom Zentralbahnhof abfahren. Nicht lange nach ihm, genau um 13.57 Uhr fährt dann der andere Zug ab. Und nun erlauben Sie mir, dass ich Ihnen etwas sage, was Sie, der Sie ein unerfahrener Reisender sind, bis jetzt sicherlich noch nicht einmal bemerkt haben." Er stellte seinen Krug und den Beutel auf die Erde, um ungehinderter sprechen zu können. "Geben Sie Acht, mein Herr! Wie subtil, jede Eventualität in Erwägung ziehend und detailliert ist der Bau des Fahrplanes! Der erste Zug, den ich erwähnte, der um 13.20 Uhr, ist ein Normalzug. Was heißt das? Alle wissen, es heißt, dass er ziemlich langsam fährt. Er hält an jedem Bahnhof, selbst in den unbedeutendsten Dörfern. Der nächste Zug, der um 13.57 Uhr, ist ein etwas schnellerer Normalzug. Das bedeutet, er hält nicht in jedem kleinen Dorf und obzwar er mehr als eine halbe Stunde nach dem ersten abfährt, erreicht er diesen nach einiger Zeit. Nun passen Sie auf. Wenn Sie oder ein anderer Reisender vielleicht aus Unachtsamkeit oder aus irgendeinem anderen Grund den ersten Zug verpassen, dann können Sie mit dem zweiten den ersten erreichen. So können Sie die verlorene Zeit zurückgewinnen. Ist das nicht fantastisch!" Der Hauptbeamte wandte sich mir zu und wartete auf Anerkennung.
    Ich hüstelte. Das grandiose Wissen und die Begeisterung des alten Herren rührten mir das Herz, doch in der jetzigen Situation hätte ich es vorgezogen, über ganz andere Angelegenheiten etwas zu hören. Es ist schon 7.40 Uhr. Ich habe noch eine Stunde bis zur Abfahrt, aber wenn er so weitermacht, werde ich wahrhaftig nicht früher losfahren können als um 13.20 Uhr.
    "Verzeihen Sie, mein Herr", sagte ich, "über die Stunde der Abfahrt habe ich keinen Zweifel. Doch wenn Sie so gut sein wollen, mir mitzuteilen, wo der Bahnhof ist..."
    "Nun ja, der Bahnhof." Er rieb sich die Nase, auf der zwei kleine Druckstellen andeuteten, dass er Brillenträger ist. Nun, das ist nicht so simpel, wie Sie sich das vorstellen. Die Züge, die durch unsere Stadt fahren oder die, die hier ankommen oder von hier abfahren, nun die brauchen zwei Bahnhöfe. Um die Bedürfnisse des regionalen Verkehrs zu erfüllen, steht der Zentralbahnhof zur Verfügung. Um den Transitverkehr aufzunehmen und durchzulassen, hat man einen anderen Bahnhof gebaut. Um die ankommenden und abfahrenden Züge zu versorgen, gibt es wieder eine andere Station. Doch diese ist nicht wichtig für Sie, weil man dort nur die Züge aus- und zusammenkoppelt. Übrigens liegt dieser Rangierbahnhof außerhalb der Stadt, ziemlich weit weg. Doch außer diesem muss ich unbedingt noch zwei Bahnhofsorte erwähnen, von denen einer dazu dient, um den Bedürfnissen des Personenverkehrs im Industrieviertel unserer Stadt und der Vorstädte nachzukommen. Dennoch liegt möglicherweise einer von diesen zuletzt genannten Bahnhofsorten nahe bei Ihrem Wohnort und es kann Sie darum interessieren. Na, sehen Sie es schon, mein Herr? Die ganze Sache ist nicht so einfach. Sie machen es sich zu leicht. Sie denken, dass Sie einsteigen in den Zug und los! Nein, nein. Ganz und gar nicht. Jeder Mensch müsste die Probleme des Reisens tiefer erkennen. Oder etwa nicht? Wenn Sie einen Stift und Papier mithaben, werde ich Ihnen Titel und Verfasser des Büchleins aufschreiben, das - obwohl es nur ein kleines Werk ist - dennoch tiefe und detaillierte Erläuterungen über die Eisenbahn gibt."
    "Ich danke für Ihre Freundlichkeit, mein Herr..." Unterdessen näherte sich uns ein weiterer älterer Mann aus einer anderen Richtung. Ich fuhr fort: "In diesem Moment würde ich nur so viel wissen wollen: Hier links, zwischen den Häusern muss ein Bahnhof sein. Ganz in der Nähe. Wenn man mit dem Rad fährt, braucht man vielleicht nur einige Minuten, um ihn zu erreichen. Wie könnte ich hin gelangen?"
    Währenddem erreichte uns nun der andere Alte. Gespannt lauschte er dem Gespräch.
    "Wenn ich ganz aufrichtig sein soll", fuhr der Hauptbeamte fort, wobei er ein riesiges rotes Tuch aus der Tasche holte und seine Augen wischte, "scheint mir, als ob ich mich erinnerte, dass so um sechs Uhr? Vielleicht fährt dann ein Bus? Doch, nein, nein. Ein Bus ist 7.20 Uhr in die Richtung gefahren, in die Sie wollen, doch ganz sicher bin ich mir nicht. Aber, ob nun nach sechs oder nach sieben Uhr, schon jetzt haben Sie sich verspätet."
    Na, dachte ich, es wäre viel besser nach Hause zu fahren und auf dem mir vertrauten Weg von vorn anzufangen.
    "Was ist passiert? Kann ich helfen?", sprach uns der andere Herr an, der bis jetzt wortlos da stand.
    "Dieser Herr mit dem Fahrrad", sagte der Hauptbeamte, "hat den Bus verpasst und weiß nun nicht, was er machen soll."
    "Nein, nein! Nicht den Bus", wollte ich unterbrechen, doch der andere Herr ließ mich nicht weiterreden.
    "Warum fahren Sie nicht mit dem Rad? Als ich so jung war wie Sie, meine Herren! In meiner Blütezeit! Wie Eisen, wie Eisen war ich!", schrie er, begeistert seine Fäuste reckend. "Vielleicht erscheint es Ihnen unglaublich. Seitdem haben sich einige Kilos angesammelt, ha-ha. Mein Fässlein hat an Umfang etwas zugenommen", sagte er, seinen gewaltigen Bauch tätschelnd. "Nun, ob Sie es glauben oder nicht. Ich habe weniger als viereinhalb Stunden gebraucht, um hundert Meilen zu radeln! Wollen Sie das bitte begreifen? Hundert Meilen! Mehr als zwanzig Meilen in der Stunde! Können Sie sich das vorstellen?" Und berauscht vom einstigen Ruhm stieß er seinen Hut nach hinten. "Doch aufrichtig gesagt, solche Radtouren konnte damals selbst ich nicht jeden Tag machen."
    "Eine hervorragende Leistung, mein Herr", sagte ich, "doch was mich jetzt interessiert, ist, hier in der Nähe muss ein Bahnhof sein. Wie könnte ich ihn erreichen?"
    "Ein Bahnhof? Was sagen Sie da?", murmelte der Radfahrvirtuose. "Warum ein Bahnhof? Warum ein Zug? Steigen Sie auf und fahren Sie mit dem Rad los! Übrigens, wo werden Sie Ihr wunderschönes Rad lassen, wenn Sie mit dem Zug fahren?"
    "Moment mal, mein Herr", sagte der Hauptbeamte, "die Sache ist nicht so einfach." Er erläuterte es. "Das Ziel, das dieser Herr erreichen will, ist sechzig, genauer noch, achtundfünfzig Meilen entfernt. Das ist keine kleine Strecke. Überlegen Sie, mein Herr!"
    "Sie sprechen von achtundfünfzig Meilen?", fragte der dickbäuchige Radfahrer boshaft. "Eine Kleinigkeit, mein Herr! Glauben Sie mir. Eine Kleinigkeit." Diese Worte flüsterte er fast schon. "Na gut. Rechnen wir nicht zwanzig Meilen in der Stunde. Dazu ist nicht jeder Beliebige fähig." Er warf mir einen spöttischen Blick zu. "Doch rechnen wir... na, sagen wir fünfzehn. Natürlich in der Stunde. Das sind... Na, wie viel sind das? Zweimal fünfzehn ist dreißig, nicht wahr? Bleiben... wie viel bleiben? Es bleiben achtundzwanzig. Das sind kaum zwei Stunden. Also, wenn Sie wollen, können Sie die Strecke in vier Stunden schaffen. Es ist eine lächerliche Zeit", sagte er etwas ermüdet vom Rechnen. "Ja, kaum vier Stunden. Angenehm und ohne zu laufen", fügte er hinzu und streckte pathetisch die Arme aus, als hörten seine Erklärung Tausende. "Und übrigens, noch haben Sie nicht geantwortet. Wenn Sie mit dem Zug fahren wollen, wo lassen Sie dann das Rad?"
    "Neben dem Bahnhof ist ein Stellplatz für Fahrräder", sagte ich, "ich lasse mein Rad immer dort, wenn ich fahre."
    "Das machen Sie nicht klug, mein Herr", sagte der Hauptbeamte. "Wenn Sie mit dem Zug fahren, können Sie gegen ein paar Groschen Ihr Rad als persönliches Gepäck mitschicken. Wenn Sie das Ziel erreichen, erhalten Sie es sofort zurück und Sie brauchen nicht zu Fuß gehen. Ist das nicht grandios?"
    "Sie sprechen von einem Fahrradstellplatz?", murmelte der Fassbäuchige. "Sie haben recht. Hier in der Nähe ist eine Unterbringungsmöglichkeit, ja, neben der Kaufhalle!", schrie er sich plötzlich bewusst werdend los. "Bestimmt suchen Sie die. Die Kaufhalle. Sie ist links. Und daneben der Platz für die Fahrräder."
    "Sie haben unrecht, mein lieber Herr", sagte ich zu dem Radfahrer, jedoch schon ziemlich nervös. "Nein. Sie waren nicht hier, als ich anfing mich mit dem Herrn Hauptbeamten zu unterhalten. Ich will nicht wieder von vorn anfangen. Die Einzelheiten würden Sie bestimmt langweilen, aber ich brauche keine Kaufhalle. Ich muss unbedingt fahren! Und ich muss das mit dem Zug tun, darum frage ich laufend nach dem Bahnhof. Wenn Sie so gut sein wollten..."
    "Gut. Es ist egal. Fahren Sie wie Sie wollen", sagte der Mann mit dem Fassbauch beleidigt. "Obwohl Sie sich meiner Meinung nach bestimmt irren. Sie suchen bestimmt die Kaufhalle. Sie ähneln sich sehr, der Bahnhof und die Kaufhalle. Beide sind vom gleichen Architekten erbaut worden. Vergessen wir diese Tatsache nicht." Aber das sagte er schon ungemein wütend.
    Nervös, ohne Abschiedswort, ließ ich die zwei Alten stehen. Nur noch einige Schritte. Dann führte eine Seitenstraße nach links, wo nach meiner Vorstellung der Bahnhof sein müsste. Ich kam in die Nebenstraße und ging auf ihr weiter, das Rad neben mir herschiebend. O weh!
    Es wäre besser, zurück nach Hause zu fahren und auf dem mir wohlvertrauten Weg wieder von vorn anzufangen.
    Ich hörte noch, dass die beiden Alten sich wütend über mich unterhielten. Dann verschwanden sie hinter der Straßenecke. Die Sonne schien angenehm, ich spürte die Strahlen auf dem Rücken. Das tat ungemein gut. Als ich bei den beiden Alten stand, war ich im Schatten, und das Märzlüftchen wehte ziemlich kühl.
    In zehn Minuten wird es acht sein. Es ist schon reichlich viel Zeit vergangen, die beiden verrückten Alten haben eine Menge zu schwatzen gehabt. Wenn ich nicht den Weg verloren hätte, würde ich den Bahnhof schon erreicht haben und säße im Zug. Ich liebe das Warten vor der Abfahrt. Wenn man nichts tun kann.
    Der heutige Tag fing etwas unangenehm an. Und wie menschenleer die Straßen sind!... Ich denke, es wäre gut, zu dieser Kaufhalle zu gehen, dort ist jeden Morgen etwas los. Unter den vielen Leuten werde ich hoffentlich jemanden finden, der mir den Weg zeigen kann.
    Plötzlich hörte ich hinter meinem Rücken eine Unterhaltung. Ich sah mich um. Furchtbar! Die zwei verrückten Alten folgten mir. Was wollen sie? Ich verstand nicht, über was sie sich unterhielten. Doch wegen der unfreundlichen Blicke, die sie auf mich richteten, war klar, dass es um mich ging. Kann ich sie denn nicht hinter mir lassen?
    Ich setzte mich auf das Rad, um die Flucht zu ergreifen, doch nach einigen Metern hielt ich wieder an. Eine Frau näherte sich mir. Gut gekleidet, fast elegant. Irgendeine Sekretärin, dachte ich. Sie hatte es eilig. Sicherlich geht sie zur Arbeit. Ich wollte sie nicht aufhalten. Darum sagte ich nichts vom Bahnhof, sondern fragte nur:
    "Verzeihung, meine Dame. Haben Sie nicht hier in der Nähe einen Polizisten gesehen?"
    "Warum? Ist etwas passiert?", fragte sie auf einmal erschrocken. Was für schöne Augen sie hat.
    "Es ist nichts passiert", antwortete ich lächelnd, "ich habe nur den Weg verloren."
    "Sie haben Ihr Geld verloren?", fragte sie verwundert. "Fühlen Sie sich nicht wohl? Ist Ihnen etwas Schlimmes zugestoßen?"
    "Nein, liebe Frau. Nichts Schlimmes. Danke der Nachfrage, es geht mir gut", antwortete ich. "Es ist nur so gewesen, dass ich zum Bahnhof gehen wollte und ihn nirgends finden kann."
    "Was heißt das, Sie können ihn nicht finden? Das ist seltsam. Stellen Sie sich vor, jemand hat den Bahnhof gestohlen? Und das wollen Sie der Polizei verkünden? Lächerlich", sagte sie gereizt.
    Es kommt mir so vor, als wären heute Morgen alle verrückt geworden "Nein, nein. Es geht nur darum, dass die Polizei wissen muss, wo dieser verfluchte Bahnhof ist."
    "Jetzt passen Sie auf", sagte sie steif, "einen Polizisten habe ich nicht gesehen. Doch wenn Sie zum Bahnhof gehen, dann beeilen Sie sich. Es ist ja bei jedem Bahnhof auch eine Polizeiwache, dort werden Sie sicherlich einen Polizisten finden. Und nicht nur einen, sondern viele. Erzählen Sie denen, was passiert ist." Wütend ließ sie mich stehen.
    Die beiden Alten näherten sich mir in der Zwischenzeit in bedrohlicher Weise. Während ich der Frau nachblickte, sah ich, wie sie sie ansprachen und sich über etwas unterhielten. Ich konnte nur schlecht verstehen, über was sie verhandelten, weil ich mich auf das Rad gesetzt hatte und mich bemühte, den Abstand zwischen mir und ihnen zu vergrößern.
    "...Ich bin mir sicher. Er hat die ganze Nacht durchgezecht und ist immer noch nicht ganz nüchtern." So viel bekam ich mit. Der Radfahrer mit dem Fassbauch sagte es, ziemlich laut. "Oder er ist einfach ein Verrückter", meinte der Hauptbeamte.
    Ich warf wieder einen Blick auf sie. Sie standen zu dritt da und starrten mir nach, ohne ihre Missbilligung irgendwie zu verbergen.
    Ich radelte weiter. Ich werde diese verfluchte Kaufhalle suchen. Sie muss hier in der Nähe sein, wenn der Radfahrer die Wahrheit gesagt hat. Dort im Gedränge werde ich hoffentlich wenigstens einen Menschen finden, der normal ist, der mir den Weg zeigt.
    Für einen Augenblick sah ich wieder hinter mich und bemerkte, dass das Trio mir folgte. Also auch die Frau, die vor Kurzem noch genau in die entgegengesetzte Richtung eilte. Gleich werde ich wahnsinnig! Die drei sind sich fremd. Vermutlich haben sie sich bis jetzt noch nie gesehen. Es verbindet sie nur die Tatsache, dass sie auf meine einfache Frage, wo der Bahnhof ist, nicht antworten können oder nicht antworten wollen, der Bahnhof, von dem ich überzeugt bin, dass er hier in der Nähe sein muss. Es ist dieser einfache Umstand, der sie zwingt, alle anderen Aufgaben liegen zu lassen und einem ihnen völlig fremden Menschen zu folgen. Was ist das? Neugier? Oder böser Wille? Sind sie vielleicht einfach betrunken? Sie erwecken nicht den Anschein. Im Gegenteil. Am Anfang schienen sie wirklich gutwillig.
    Es wäre viel besser nach Hause zu fahren und auf dem mir wohlvertrauten Weg wieder von vorn anzufangen.
    Der Fassbäuchige schrie mit rauer Stimme hinter mir her. Jedes Wort verstand ich nicht, doch er sagte etwa Folgendes: "... und dieser arrogante Bube spricht von Polizei! Will er uns vielleicht anzeigen? Schurke! Verfluchte Kanaille!" Ich erhöhte die Geschwindigkeit. Das verrückte Trio wird gleich einen Angriff gegen mich starten. Natürlich, ich konnte nicht zu schnell radeln, da ich den Weg zur Kaufhalle nicht kannte. Deshalb musste ich auf jede Seitenstraße achten, vielleicht würde ich sie irgendwo entdecken.
    Gleich in der zweiten Straße erblickte ich zwei Frauen, die mir mit Körben voller Gemüse entgegenkamen. Ich sagte kein Wort zu ihnen. Heute früh sind mir schon genug von diesen Kretins über den Weg gelaufen. Ich fuhr weiter in Richtung des Markttreibens, von dem die zwei Frauen kamen. In der Nähe stand die Kaufhalle, mit ihrem Lärm und den seltsamen Gerüchen. Doch wieder geriet ich in eine unangenehme Situation. Vor der Kaufhallenfront streckte sich ein breites Blumenbeet aus, das ich mit meinem Fahrrad nicht überqueren durfte. Der betongraue Bürgersteig befand sich erst hinter dem Blumenbeet. Dort standen eine Menge Verkäufer mit ihren Kisten und Körben. Diese Leute beachten Neugierige wie mich überhaupt nicht, sie haben genug Arbeit. Dann waren noch viele dort, die einkauften. Aber alle eilten hinein und heraus durch das Eingangstor, mit und ohne Gepäck. Es war offenkundig, sie hatten nicht die geringste Lust, sich in ein Gespräch mit mir einzulassen. Außerdem hätte ich wegen dem Blumenbeet, das mich von ihnen trennte, brüllen müssen.
    Ich muss mein Rad abstellen, damit ich dann zu Fuß fragen kann. Der Platz, auf dem ich das Rad stehen lassen konnte, war nicht weit vom Eingangstor entfernt. Ich fand auch einen schmalen Pfad, der mich zwischen den Blumen zum Bürgersteig führte. Ich dachte daran, entweder in die Kaufhalle hineinzugehen oder davor jemanden anzusprechen, der normal aussieht und es nicht eilig hat. Doch da entdeckte ich auf der anderen Seite der Straße eine Gaststätte. Es war eine typische Frühmorgengaststätte, die von Verkäuferinnen und Transportarbeitern aufgesucht wird, die sich mit einem Gläschen Schnaps stärken. Na gut, dachte ich, in der Gaststätte sind die Leute sicherlich freundlicher. Kann sein, ich finde jemanden, der mir den Weg zeigt. Ich lief los zur Gaststätte.
    Die Zeit verging unterdessen schnell. Gleich wird es acht sein. Es wäre viel besser nach Hause zu fahren und auf dem mir wohlvertrauten Weg wieder von vorn anzufangen. Gott allein weiß, wie viel Verrückte ich heute Morgen noch antreffen werde. Und während ich in den Seitenstraßen herumirrte, verlor ich die Richtung vollkommen, so, dass ich jetzt überhaupt nicht mehr wusste, wo ich diesen verfluchten Bahnhof suchen sollte.
    Ungewollt fiel mein Blick auf das Ende der Straße. Gleich werde ich wahnsinnig! Die zwei Alten mit der Sekretärin näherten sich dort. Und in der Zwischenzeit haben sich ihnen auch die zwei Frauen mit den Körben angeschlossen, die ich vor Kurzem sah. Was wollen Sie von mir?
    Der Radfahrer reckte mir zornig die Faust entgegen, als er bemerkte, dass ich in die Gaststätte ging. Der Abstand zwischen ihnen und mir betrug mindestens dreißig Meter, doch trotz des starken Straßenlärmes konnte ich klar verstehen, was er mir entgegen brüllte:
    "Schurke! Hat die nächtliche Sause nicht gelangt? Willst du die Sauferei fortführen?"
    Ich bekam große Angst. Wenn sie in die Kneipe kommen, können sie die Gäste so sehr gegen mich aufwiegeln, dass die mich am Ende erschlagen werden.
    Ich drehte unvermittelt um. Lieber gehe ich in die Kaufhalle. In dem Getümmel wird es mir vielleicht gelingen, mich zu verbergen. Ich eilte im Laufschritt in Richtung des kleinen Fußweges, der durch das Blumenbeet führt, bis zum Eingangstor der Kaufhalle. Am Ende des Pfades hinderten mich zwei alte Frauen am Weitergehen. Sie feilschten um etwas. Ich musste mich zwischen ihnen hindurchquetschen.
    "Verzeihung, meine Damen! Ich bin in Eile."
    "Seht die Kanaille! Er stößt mich zu Boden!", schrie eine der beiden.
    Mein Gott! Aus der anderen Richtung, durch das Blumenbeet trampelnd, näherten sich im Laufschritt der alte Hauptbeamte, der Radfahrer, die Sekretärin und die zwei Frauen. Wenn es mir nicht gelingt, mich plötzlich im Gedränge zu verbergen, werden gleich sehr traurige Dinge vor sich gehen. Doch mein Gott, warum? Warum nur? Durch das Getümmel am Tor, die Leute auseinander stoßend, bahnte ich mir einen Weg. Alle schrien mich an, von überall her. Ich war bereits in der Kaufhalle und lief dann plötzlich nach links den Gang entlang, wo hüben und drüben Verkäufer arbeiteten. Ungewollt schubste ich einen groß gewachsenen korpulenten Mann.
    "Warum siehst du dich nicht vor, Scheißkerl!", sagte er und griff mit einer mächtigen Pranke nach meinem Arm. Ich bemerkte seinen ekelhaften Schweißgeruch, und als ich ihm ins Gesicht sah, musste ich feststellen, er war betrunken.
    "Lassen Sie mich los, mein Herr! Sehen Sie nicht, dass ich es eilig habe?", sagte ich zu ihm.
    "Seht die Kanaille! Er ist wütend!", erwiderte der Riese. "Warum drängt es so sehr? Wohin so eilig? He, Freundchen! Hast du etwas geklaut, eh?" Mit der anderen Hand drehte er mir die Nase zusammen.
    Was muss ich heute noch alles ertragen? Ich blickte hilfeflehend um mich. Auch das noch! Das ist das Ende! Als ich zum Eingang sah, erblickte ich den Hauptbeamten und seine Gefährten. Alle schrien sie zu mir herüber. Ihre Gesichter waren rot vor Wut und die Menschenmenge, die von mir bis dahin nichts wusste, schloss sich ihnen an. Bedrohlich näherten sie sich.
    "Hat er etwas gestohlen, der Scheißkerl?", rief ihnen der Riese entgegen. Schon presste er auch meinen anderen Arm zusammen. Ich konnte mich nicht mehr bewegen. Eine ungeheure Wut und Panik ergriff mich. In meinem Hirn tobte der Wahnsinn. Da ich auch die Hände nicht rühren konnte, um mich zu befreien, trat ich mit ganzer Kraft gegen das Knie des Riesen. Er schrie vor Schmerz auf. Plötzlich ließ er meine linke Hand los. Ich sah noch wie seine gewaltige Faust hervorschnellte, ehe sie mir ins Gesicht schlug.
    Dann folgten Dunkelheit und Schweigen.

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Man sagt, ich dürfte in einigen Tagen nach Hause gehen. Na ja. Seit reichlich langer Zeit sagt man das. In den ersten Wochen habe ich die Tage gezählt, doch seitdem das Wetter herbstlich und regnerisch wurde, fühle ich mich in diesem stillen Milieu ganz wohl. Jeden Nachmittag lege ich mich in die überdachte Veranda und lausche dem rauschenden sanften Regen. Dem schönen, leisen Herbstregen.
    Der freundliche junge Mann mit dem strengen Gesicht sagt oft, ich sei nun schon ziemlich ruhig, meine Müdigkeit sei verflogen. Auch ich fühle die Ruhe in mir, doch warum von Müdigkeit reden? Ich war nie müde, eher gequält.
    Reichlich derb behandelte man mich in der Kaufhalle. Als ich bewusstlos wurde und zu Boden fiel, trat man sogar mit Füßen nach mir. So erzählt es der junge Mann mit der strengen Miene. Seit den Tagen, als ich mich endlich aus dem Bett erheben durfte, saß ich oft mit dem jungen Mann im Garten. Ich mag ihn sehr. Er hat eine leise wohltemperierte Stimme. Angenehm ist es, sie zu hören. Sie ist beruhigend wie eine lauwarme Dusche. Anfänglich überraschte mich, was er erzählte, aber jetzt glaube ich ihm schon. Glaube ich ihm wirklich? Ich weiß nicht.
    In dem Viertel, in dem ich den Weg verlor, soll es keinen Bahnhof geben, so sagt man.
    Ich erklärte ihm: "Wenn ich wieder von vorn anfangen könnte, auf dem mir wohlvertrauten Weg, dann fände ich ihn."
    Er zeigt mir eine Karte. In diesem Viertel gibt es nur Wohnhäuser. Ja, auch einige kleine Plätze, doch Gleise oder ein Bahnhof nirgends.
    Ich argwöhnte, die Karte sei gefälscht. Und als mich niemand sah, untersuchte ich heimlich ihre Rückseite. Ich las den Namen der Druckerei, die sie auch herausgab. Und es war weiterhin vermerkt, dass man sie in viertausend Exemplaren gedruckt habe.
    Nun, eine derart große Fälschung inszeniert man sicherlich nicht wegen meines Unfalles. Doch warum erinnere ich mich dann so genau an den verfluchten Bahnhof? Ich habe sogar jetzt noch das Gefühl, dass ich ihn bestimmt fände, wenn ich auf dem mir wohlvertrauten Weg fahrend, wieder von vorn anfangen könnte. Ich weiß schon überhaupt nicht mehr, was die Wahrheit ist. Bin ich wirklich ich? Und ist die Welt wirklich real? Wenn es nicht so ist, warum erinnere ich mich dann nur? Warum erinnere ich mich so bestimmt und so klar?
    Hin und wieder habe ich verrückte Gedanken. Ob ich mich verändert habe? Nein. Jedoch, wenn ich meine Hände betrachte, kommt es mir so vor, als wären es fremde. Ab und zu spüre ich seltsame leichte Schmerzen und ein Schwindelgefühl, was mir vorher nie passierte. Nun, der Schmerz und das Schwindelgefühl sind nicht stark. Ich könnte das leicht aushalten. Doch diese falschen Erinnerungen... Kann es sein, dass ich, als ich eine andere Person wurde, in meinem Hirn Bruchstücke aus meinem vorherigen Ich zurückbehielt? Na, das ist nicht wichtig. Ich quäle mich nicht damit. Am Ende wird bestimmt doch noch der Tag kommen, an dem ich nach Hause gehen darf. Bis dahin werde ich still die Geräusche des Regens vernehmen.
    Ich liebe das Warten vor der Abfahrt sehr. Darum komme ich gern frühzeitig auf dem Bahnhof an, suche mir einen bequemen Platz im Zug aus und lausche dem Stimmengewirr der Ankommenden. Es ist für mich wie das Plaudern des Publikums vor dem Theaterstück oder wie das Einstimmen des Orchesters vor einem Konzert.
    Ab und zu brenne ich mir eine leichte Zigarrette an und denke nach. Verrückte Angelegenheiten sind die Erinnerungen. Niemals habe ich nachgezählt, die wievielte Straße zum Bahnhof führt. Und doch habe ich sie immer gefunden. Der Teufel weiß, wie das vor sich ging. Ob das Aussehen der Häuser mir den Weg wies? Ich denke, irgendein Instinkt leitet den Menschen. Am zweiten März verließ mich dieser Instinkt und ich verlor den Weg.
    Na ja. Es bleiben noch einige Tage. Und irgendwann, wenn ich wieder zu Hause bin, werde ich an einem schönen heiteren Morgen wieder von vorn anfangen und losgehen. Auf dem Weg fahrend, der mir wohlvertraut ist, werde ich ganz bestimmt den Bahnhof finden.