Meide die Sonne!

     Es wäre besser. Es wäre viel besser, wenn man mir alles sofort sagte.
    Ich lege vor mich hin, was ich mitgebracht habe. Er schiebt die Blätter, die er bis jetzt gelesen hat, beiseite. Er sieht nicht einmal auf zu mir. Apathisch blättert er.
    "Das sind insgesamt acht Blätter", sagte er.
    Was bedeutet das? Hat er mehr erwartet, oder sind selbst diese schon viel? Warum sagt er nichts?
    Er schielt zu mir herüber. Seine Augen zucken unter den dicken Brillengläsern wie ekelhafte schlierige Wesen im Schlamm.
    "Sie sind anscheinend müde", sagte er. "Sie haben sich gehen gelassen, wie? Eine kleine nächtliche Ausschweifung?" Es ist, als zwinkerte er mir zu.
    "Nein, nein! Ganz und gar nicht! Was denken Sie! Ganz im Gegenteil!"
    Das war nicht gut. Zu plötzlich, zu glühend kam der Protest. Als wenn ich etwas zu verheimlichen hätte.
    "Vielleicht liegt es am Wetter...", entschuldigte ich mich.
    Kurzsichtig blinzelte er nach draußen durch das Fenster. Sonniges, strahlendes Wetter und nicht nur heute, sondern durchweg während der letzten Wochen. Ich erinnere mich nicht einmal mehr wie Wolken aussehen. Na, wenn sich jemand auch bei diesem Wetter nicht wohl fühlt... ich habe wieder etwas Dummes gesagt. Es ist nicht nötig zu reden. Lieber überhaupt nichts sagen. Lieber das gärende Schweigen.
    Er betrachtete mich erneut. Die Wesen zucken. Ob er mir vorhin wirklich zugezwinkert hat? Wer weiß?
    "Na gut", sagte er, "ich akzeptiere die acht Seiten. Vervollständigen Sie den Rest. Aber beeilen Sie sich ja nicht zu sehr dabei. Sie müssen irgendwann auch einmal schlafen. Nun, ich denke, zu Hause... ha-ha-ha..."
    "Ja."
    Nun, warum hat er das "zu Hause" beinahe böse gesagt? Hat man ihm etwas über mich erzählt? Hat man mir wieder etwas zur Last gelegt? Hat er irgendeine Verleumdung gehört? Ob er sich selber etwas in der Art ausgedacht hat?
    Ich ziehe mich nach draußen zurück.
    Ein schmaler Korridor, Dämmerlicht, schaler Geruch von Tabakrauch und betretenes Schweigen. Als ich die Tür meines Zimmers öffnete, verstummten die anderen. Oder waren sie gar bis jetzt stumm geblieben? Wer weiß? Sie richteten ihre steifen Blicke auf mich. Kanaillen! Warum gaffen sie mich unentwegt an? Ich setze mich.
    Dieses unangenehme Schweigen verwandelt sich in meinem Hirn zu Eis. Warum schweigen sie? Schweigen sie wegen mir, gegen mich? Wissen sie etwas über mich? Aber was, um Gotteswillen? Oder reimen sie sich nur etwas über mich zusammen?
    Ich müsste diesen verfluchten Brief schreiben. Doch nein. Ich kann das anklagende Schweigen nicht ertragen. Ich gehe nach draußen.
    Neben der Pförtnerloge im Wartezimmer halte ich an. Der Diensthabende richtet seine Augen auf mich. Er spricht mich nicht an, betrachtet mich nur prüfend. In meiner Tasche beginnt etwas zu klimpern.
    "Haben Sie eine Münze für das Telefon?", frage ich ihn.
    Er kraust die Stirn. Warum überraschte es ihn?
    "Warum, bitte schön, wollen Sie nicht im Zimmer telefonieren?", fragte er.
    Er hat recht. Wieder habe ich etwas Unkluges gesagt. Es ist nicht nötig zu reden. Lieber überhaupt nicht reden. Lieber dieses hartnäckige Schweigen.
    "Ich werde das Geldstück am Abend brauchen", lüge ich verlegen.
    "Ja. Leider habe ich kein Kleingeld. Doch ich werde Ihnen gern welches holen. Soll ich nach unten auf den Supermarkt gehen, um zu wechseln?"
    "Nein, nein. Ich danke Ihnen. Auch ich will hinuntergehen. Vielleicht finde ich etwas zu essen."
    Das widerhallende Schweigen des Treppenhauses. Wenn die Sonne so brennt wie jetzt, ist es nicht zum Aushalten. Alles strahlt. Alles blendet, bis man besinnungslos wird. Die Wände sind mit leuchtenden Farben bemalt, die Geländer vernickelt und überall schwebt der Geruch dieser elenden Mixtur, mit der man gewöhnlich die Stufen reinigt. Die Treppe krümmt sich viermal zwischen zwei Etagen. Ich laufe los, wie die Soldaten.
    Zehn Schritte vorwärts, eine Wendung nach rechts. Zehn Schritte vorwärts...
    Sechs Etagen, das sind sechsmal vier Wendungen nach rechts. Ich hätte nach dem Lift läuten müssen. Doch der Mann im Lift betrachtet es als einen Anschlag, wenn jemand den Mut aufbringt, seine erhabene Person zu stören. Heute habe ich schon genug böse Blicke eingefangen.
    Warum habe ich noch nicht diesen verfluchten Brief geschrieben? Die ganze Angelegenheit wäre schon zu Ende gebracht.
    Zehn Schritte vorwärts, eine Wendung nach rechts.
    Ha, diese Wesen unter den dicken Brillengläsern! 'Sie müssen irgendwann auch einmal schlafen', hatte er gesagt. 'Nun, ich denke, zu Hause'. Warum sagt er "zu Hause?"
    Zehn Schritte vorwärts, eine Wendung nach rechts. Zehn Schritte...
    Mir ist schwindlig.
    Endlich, die Straße. Lärm, sengende Sonnenstrahlen, Gleichgültigkeit. Das ist jetzt gut. Sehr gut. Darin untertauchen. Völlig darin versinken. Doch es hilft nicht, befreit nicht, rettet mich nicht. Ich müsste mich in dem Lärm auflösen. Ich müsste diesen Brief schreiben, mit dem Lärm verschmelzen und verschwinden, ich müsste selbst Lärm werden. Ich würde über den Häusern schweben, nach unten schauen, den Tumult beobachten. Ich würde die Hasserfüllten beobachten. Waren acht Seiten viel oder wenig? Und warum schwiegen die anderen? Das abscheuliche Schweigen, das mich vertrieben hat.
    Jemand grüßt mich. Wer konnte das sein? Ich habe gerade in die andere Richtung gesehen. Ich drehe mich nach ihm um. Die Strahlen der Sonne blenden. Ich bin unfähig jemanden zu erkennen. Ob es einer aus dem Büro war? Er wird jetzt sicherlich hineingehen und das Gerücht streuen wie er mich auf der Straße herumirren sah.
    Ich habe entsetzliches Kopfsausen.
    Der Bürgersteig schwankt unter meinen Fußsohlen. Jetzt hebt er sich gefährlich. Als ob ich auf einem steilen Abhang kröche. Das alles geschieht wegen der Sonne, wegen dieser unbarmherzigen Sonnenstrahlen. Der ungeheure Strahlenausfluss verstopft meinen Schädel. Die Straße neigt sich nun nach links. Soll auch ich mich mit ihr bewegen? Oder sollte ich aufrecht bleiben? Selbst die Mauern schwanken bedrohlich. Menschen, stützt die Mauern! Sie wollen mich zu Tode quetschen. Auch ich würde sie stützen, aber ich bin zu schwach. Ich bin schwach und verteidigungsunfähig wie ein Krebs, der den Panzer verloren hat. Mein Panzer ist geschmolzen und nun verbrennt mich alles: die Blicke, das Schweigen, der Lärm, die grausamen Sonnenstrahlen, alles. Ich will mich verbergen. Ich will mich in eine Plakatsäule hineinschieben. Hineinkriechen und hinkauern in ihr. Ich würde den eindringenden Lärm belauschen. Gestattet mir, mich in einer Plakatsäule zu verbergen! Doch lieber nicht. Sie taugt nicht. Sie ist so großartig nur von außen. Sie hat nur dünne Blechwände. Ihre Hülle ist dünn wie die Plakate selbst. "Pflege deine Haut mit Ozonkreme!" "Rauche Filter-Zigarretten!" "Das Kinoprogramm der Woche" "Eine Wohltat - Zahnpasta Salvo!" "Gegen die Sonne - Hofferöl." Plakate, Plakate, rote, grüne, gelbe, blaue, brutale schreiende Farben. Sie blenden und betäuben. Und dazu noch diese zum Wahnsinn treibenden Sonnenstrahlen. Die Plakate neigen sich mir beängstigend zu. Ich gehe weiter. Ein Blumenladen. Drinnen ein Aquarium. Ich betrachte die Fische. Sie glotzen mit ihren starren Augen zu mir zurück. Warum schielt ihr so blöd? Sie zucken und zucken hin und her... die Wesen unter den dicken Brillengläsern. 'Sie müssen irgendwann auch einmal schlafen', sagte er. 'Na, ich denke, zu Hause.' Ich hasse die Fische.
    Eine Blume mit einer überdimensionalen Blüte. Ihr geschwollener Blütenkelch ist so groß wie der Kopf eines Jungen. Die Blätter sind farbenprächtig. O weh! Jedes Blatt ist ja ein Papageienkopf. Papageienköpfe mit Hakenschnäbeln. Aber ja, diese Blume ist ein zwölfköpfiger Papagei.
    Da, der Supermarkt. Zu dieser Zeit sind drinnen nur wenige Menschen zu sehen. Sie blicken mich nicht laufend an. Sie fragen mich nicht. Ich muss auch nicht sprechen. Na, ich hätte die anderen im Büro fragen müssen, ob sie etwas brauchen. Wer auch immer hinuntergeht, fragt gewöhnlich, ob jemand etwas braucht. Sollte ich jetzt telefonieren? Nein. Wenn ich zu höflich erscheine, werden sie wieder anfangen herumzurätseln. Ich kenne sie gut. Es ist zwecklos zu fragen. Soll das Schweigen anhalten! Ob ich etwas esse? Jetzt ist es elf. Ein leichter Krampf in der Magengegend. Trotzdem, irgendein Fruchtsaft wird mir wahrscheinlich gut tun, hoffe ich. Ich weiß nicht, warum man hier nicht auch Gläser ausgibt... Ich bin ungeschickt. Ich trinke nicht gern aus einer Flasche.
    Warum habe ich diesen verfluchten Brief nicht geschrieben?
    Nun wieder hinein in dieses Schweigen. In dieses lieblose Schweigen. Zurück auf die Straße unter die drohenden Mauern, unter die Sonnenstrahlen, unter die Plakate. "Gegen die Sonne - Hofferöl!" Gegen die Sonne was auch immer. Gegen Sonne alles. Fürchte die Sonne! Meide die Sonne!
    Der Mann im Lift blickt auf die Uhr. Sofort fährt er mit mir nach oben, auch wenn er sonst wartet, bis sich acht bis zehn Personen versammelt haben. Warum hat er auf die Uhr gesehen? Ob auch er mich schon kontrolliert? Ob auch er im Hinterhalt liegt?
    "Eine verdammte Hitze, wie?", spreche ich ihn an.
    Er betrachtet mich überrascht. Schon wieder, warum musste ich reden? "Ja, mein Herr", antwortet er apathisch, "zur sechsten?"
    "Ja. Zur sechsten."
    Warum hat er gefragt? Er weiß es doch genau. Denkt er vielleicht, ich gehe zur Leitung? Warum sollte ich? Rätselt auch er schon herum? Reimt sich denn hier schon jeder etwas über mich zusammen?
    Schon vor langer Zeit hätte ich diesen Brief schreiben müssen. Wieder die anderen. Bestimmt werden sie mich erneut wortlos anstarren. Aber nein. Jemand spricht mich an.
    "Man suchte Sie telefonisch."
    "Wer?"
    "Ich weiß nicht. Einen Namen hat er nicht genannt."
    Mir ist schwindlig. Was bedeutet das Telefon? Normalerweise sucht mich niemand. Ob etwas zu Hause passiert ist? Aber, bei Gott, ich habe Ihnen schon tausendmal gesagt, sie sollen hier auf keinen Fall anrufen! Außerdem kann es sein, man sucht mich nicht von zu Hause aus. Wer könnte es sein?
    Auf meinem Tisch liegt ein Brief. Ich erblicke ihn schon von weitem. Offenbar kam in der Zwischenzeit der Briefträger. Als ich den Tisch erreiche, bemerke ich, es ist ein Einschreibebrief. Eine langsame, sich ausbreitende Empfindungslosigkeit erfaßt mich. Mehr und mehr, von oben nach unten. Was bedeutet dieser Brief? Ich habe nicht einmal den Mut, den Namen des Absenders zu lesen. Ich sehe durch das Fenster nach draußen. Als die Empfindungslosigkeit meine Nieren erreicht, beginnen sie zu stechen. Seit der Operation geht das so. Ja, die Operation. Der leichte Geruch des Äthers, die beruhigende, kühle Luft des Operationssaales, das leise Klingeln der polierten Instrumente auf dem Glastisch, das stille dumpfe Absterben der Gefühle. Stechend verkrampfen sich die Nieren. Sie flackern auf wie eine rote Signallampe: "Rettungsausgang". Gefahrenausgang? Wo ist der Rettungsausgang? Gibt es einen Rettungsausgang für mich?
    Ob ich den Brief öffne? Nein! Ihr werdet nicht zusehen können, was für ein Gesicht ich mache, wenn ich den Brief lese!
    Das Schweigen macht mich verrückt. Warum sagt Ihr nichts? Es liegt etwas in der Luft, das ist sicher. Irgendetwas bereitet sich vor, etwas geschieht, aber ich weiß nicht, was. Waren die acht Seiten zu viel oder zu wenig? Warum dieses hasserfüllte Schweigen? Und der Diensthabende: 'Warum, bitte schön, wollen Sie nicht im Zimmer telefonieren?' Und die Fische im Aquarium. Und der zwölfköpfige Papageienkopf. Und der Mann im Lift. Warum sagen sie nichts? Was bereitet sich vor? Was geschieht? Ich müsste diesen verfluchten Brief schreiben. Es wäre das Beste, anonym. Aber leider, Informationen solcher Art beachtet man nicht. Ob ich die Angelegenheit per Telefon in Ordnung bringe? Man würde meine Stimme wiedererkennen. Was soll ich tun?
    Ich habe Kopfsausen.
    Irgendwann, vor langer Zeit, in der Zeit unserer Väter, konnte man wenigstens noch Bleistifte spitzen. Heutzutage hat jeder einen Füllfederhalter und einen Kugelschreiber. Ich habe nichts, um daran herum fingern zu können. Wie alt war mein Vater, als... zweiundsiebzig oder dreiundsiebzig? Na, richtig, damals war er längst pensioniert.
    Bis zur Pension habe ich mindestens noch fünfzehn Jahre.
    Das sind fünfzehn mal dreihundert Arbeitstage.
    Das sind fünfzehnmal dreihundertmal acht Stunden.
    Das sind fünfzehnmal dreihundertmal achtmal sechzig Minuten.
    Ist es möglich, solange auszuhalten?
    Verflucht sollt Ihr sein! Warum sprecht Ihr nicht?
    Ich habe Kopfsausen, Kopfsausen und Kopfsausen...
    Schweigen...