Der Tabakverkäufer

     Es ist soweit. Der Nachmittag des letzten Tages ist angebrochen. Jetzt erst bedauerte ich, den mächtigen Ladentisch vor vielen Jahren an der Seite aufgestellt zu haben und nicht gegenüber der Eingangstür, wie allgemein üblich. Denn ich sehe von dort, wo er jetzt steht, die vorübereilenden Gestalten an der Tür nur hin und wieder. Alle marschieren in Richtung Bahnhof. Alle tragen viel Gepäck mit, als sei es vernünftig überhaupt etwas mitzunehmen.
    Heute kamen nur wenige zu mir herein.
    Am frühen Nachmittag eine junge Frau. Sie bat um eine Schachtel Saunus, als wüßte sie nicht, dass sie schon seit Tagen ausverkauft sind.
    "Ich bedaure, meine Dame", sagte ich höflich und fügte mit einem Anflug von Ironie hinzu, "hoffentlich bald wieder".
    Sie sah mich erschrocken an und eilte schweren Schrittes, mit den hohen Absätzen ihrer Sandalen klappernd, davon. An ihrem Äußeren ließ sich die nervenaufreibende Anspannung der letzten Tage ablesen.
    Und es kam auch der Tapezierer aus dem Nachbarort herein. Hämisch fragte ich, was er wünsche, als wüßte ich es nicht. Er verlangte eine Schachtel Manakier, die er immer raucht.
    Ich verachte diesen Menschen. Er hat winzige Augen, blutlose Lippen, er ist groß und von hagerem Knochenbau. Ich dachte immer, seine Hände seien feucht. Doch im Gegenteil. Er gab mir nun zufällig die Hand und ich fühlte, er hatte eine freundschaftliche warme Hand. Ob er mir wegen seiner arroganten spitzen Nase nicht gefiel?
    "Packen Sie nicht?", fragte er und sah mir heimlich auf die Finger, ob ich auch richtig herausgebe. Er zahlte mit einem großen Geldschein, wie alle in letzter Zeit. Es blieb kaum Wechselgeld in der Kasse.
    "Nein", antwortete ich, "ich werde bleiben."
    Plötzlich nahm er das herausgegebene Geld, barg es knitternd in der Hosentasche und eilte fast im Laufschritt hinaus.
    Ich müsste den Ladentisch umstellen. Mit der Stirnseite zur Tür, damit ich die Straße besser sehen kann. Doch es widerstrebte mir, heute, am letzten Tag irgendetwas Unerwartetes zu tun. Ich beschloss diszipliniert zu bleiben. Diszipliniert und gleichgültig, wie die Dinge um mich her.
    Mir gegenüber an der Wand hing das Kinofilmplakat der letzten Woche. Man brachte es jede Woche herein und ich hängte es immer akkurat. Dieses zeigte den Hauptdarsteller mit seinem Fassbauch; er trug Frack, eine Brille auf der Nase. Eine brennende Zigarre paradierte in seiner Hand. Man sagt, ich sei ihm ähnlich. Diese Tatsache behagt mir. Der Tapezierer beneidet mich sicherlich darum.
    Außerdem, wenn schon so ein widerwärtiger Tapezierer das Weite sucht, dann lohnt es sich für mich schon aus diesem Grund, hier zu bleiben.
    Ich stand auf und ging vor die Tür. Jeden Nachmittag mache ich das so. Das Wetter war stickig warm. In der Rinne neben dem Bürgersteig zeigte der Sand noch die Spuren des letzten Regengusses. Ich mag die vorübereilenden bleichen Menschen nicht, die auch noch alle in die gleiche Richtung fliehen. Eine Frau marschiert auf der anderen Seite des Bürgersteiges mit zwei Kindern. In der einen Hand trägt sie einen Käfig mit einem Papagei. Bei Gott! Warum gibt sie ihn nicht auf? Was wird aus dem unglücklichen Vogel im vollgestopften Zug werden? Es ist seltsam, bei was für Dingen man ausharren kann. Die Kinder sind viel aufrichtiger. Sie nehmen fast nichts mit. Aus ihren ängstlichen Augen ist abzulesen, sie wissen, warum Eile geboten ist.
    "Maria! Geh zur Absperrung!", schrie ein Mann zu ihnen hinüber und trat dabei über das Blumenbeet, das den Bürgersteig umrandete. Ich ging in den Laden zurück. Ich konnte mir das nicht weiter mit ansehen. Ich meine, diese Unordnung ist nicht zu ertragen.
    Ich dachte mir, es sei Zeit die Lichter anzuschalten. Ob ich das Ladenschild anschalte? Seit einigen Tagen sind schon fast alle Läden geschlossen. Einige verließ man sogar, ohne sie erst abzuschließen. Ich will nicht mit der festlichen Beleuchtung prahlen. Ich habe mich nie gegen die öffentliche Meinung und Gewohnheit gestellt.
    Das erste und vielleicht letzte Mal jetzt - indem ich nicht weggehe.
    Ich setzte mich wieder hinter den Ladentisch. Unterdessen kam jemand herein. Der Oberst. Ich nenne ihn nur für mich Oberst. In Wahrheit ist er Stadtbeamter. Doch seine mächtige Statur, seine Stimme und die breiten Hände erwecken eher den Anschein eines Offiziers, als den eines Beamten. Ich nahm sofort für ihn zwei Schachteln Lametta heraus. Er kauft immer diese Sorte.
    "Na, mein Herr, wie geht es? Ja, die Zeit ist gekommen! Was sagen sie dazu?", donnerte er mit jovialer Stimme. "Wie üblich, eine Lametta bitte. Nun ja, ich sehe schon, sie haben sie bereits herausgenommen. Ja, es ist leicht für euch Ladenbesitzer. Der Händlerverband sorgt für euch. Ein Sonderzug. Gesicherte Sitzplätze. Wie? Bei uns, bei der Stadt sind die Vorgesetzten schon abgefahren und uns Untergebene überläßt man dem Teufel. Zum Glück habe ich meine missratenen Nachkommen schon vor langer Zeit hinausgejagt. Doch sagen sie, was soll ich mit meiner kranken Gattin machen? Wann werden auch sie packen?"
    "Ich bleibe", antwortete ich und bemühte mich gleichgültig zu erscheinen.
    Überrascht verstummte er. Er starrte nach draußen auf die Straße. Die zwei Schachteln steckte er zerstreut in die Tasche.
    "Hmh, ja", sagt er in ungewohnt verlegener Manier. Plötzlich wandte er sich mir zu und streckte die Hand aus. Auch das war ungewöhnlich. Es kam mir so vor, als wollte er doch nicht diszipliniert bleiben. "Nun, bis zum... Adieu mein Freund! Adieu!"
    Was für eine gewaltige Pranke! Es ist lächerlich sich vorzustellen wie er mit ihr jeden Tag im Büro geschrieben hat. Zögernd ging er los. An der Tür drehte er sich noch mal um.
    Sehen sie. Ich will Ihnen nicht schmeicheln, aber das... Ihre Reaktion ist heldenhaft... oder so ähnlich. Na, sie wissen ja, ich habe meine kranke Frau. Ich kann nicht bleiben."
    Er ging hinaus.
    Irgendwo lief ein Radio. Es wiederholte den gleichen warnenden Wortlaut. Gott weiß zum wievielten Male schon. Immer der gleiche Wortlaut, nur die Namen der Städte ändern sich. Wann wird auch das Radio verstummen? Wenigstens hält es lange aus. Man wechselt immer wieder den Standort des Senders. Doch keiner kann dem ausweichen, was sich da nähert. Es wird die Zeit kommen, wo man keinen Platz mehr finden wird, um den Sender unterbringen zu können. Gerade deshalb hatte ich beschlossen zu bleiben.
    "Abfahrt um 14 Uhr!", schrie jemand vor dem Laden. Bis dahin bleibt eine halbe Stunde. Ich blickte zur Pendeluhr, um meine Armbanduhr entsprechend zu stellen. Doch die Pendeluhr stand still. Seit zwanzig Jahren vergaß ich es das erste Mal sie aufzuziehen. Na, mir scheint, ein ganz klein wenig wich ich ab von der Disziplin, mit der ich die kommende Zeit erwarten wollte. Ich zog das Gewicht nach oben. Doch was dann tun?
    Mir fiel ein, ich hatte irgendwann einen Abenteuerroman auf den Ladentisch geworfen. Ich suchte ihn. Die letzten Seiten fehlten. Ob ich bis zu Ende kommen werde? Ich fing an zu lesen. Ich wunderte mich darüber, wie es mir gelang die Lektüre so aufmerksam zu lesen, und auch darüber, wie genau ich mich selbst dabei beobachtete. Ob das jeder fertig bringt?
    "Verzeihen sie die Störung", sprach mich unerwartet die Gattin des Tapezierers an, die unterdessen lautlos hereinkam. "Könnten sie mir einen großen Pappkarton leihen?"
    Die Unglückliche ist nun bestürzt, weil ich lese. Was für ein Benehmen meinerseits schickt sich ihrer Meinung nach, wenn sie die Flucht ergreift? Die Frau ist auf keine Fall so unsympathisch wie ihr Gatte. Ich habe mich darüber gewundert, wie es dem Tapezierer gelang, sie einzufangen.
    Ich ging nach hinten, um einen Pappkarton zu suchen, ließ aber die Tür einen Spalt weit offen und betrachtete die Frau heimlich. Gierig sah sie nach meinem Buch. Fast hätte ich losgelacht. Dieses unglückliche Weib bildet sich ein, ein Geheimnis sei in das Buch geschrieben, ein Geheimnis, das ich kenne und darum nicht fliehen muss.
    "Was für eine Farbe soll der Karton haben?", fragte ich sie spöttisch, um ihr etwas auf die Nerven zu fallen. Sie begann zu zittern, als hätte sie sich schuldig gemacht. "Es ist mir völlig gleich", antwortete sie, "doch bei Gott, ich flehe Sie an, beeilen Sie sich. Es bleibt nur eine halbe Stunde bis zur Abfahrt."
    Ich brachte ihr den Karton. Sie ergriff ihn und lief ohne Abschiedsgruß hinaus.
    Es scheint, als schadete auch mir die allgemeine Erregung. Denn unter normalen Umständen hätte ich auf keinen Fall die Gelegenheit ausgelassen, sie ein bisschen zu schikanieren. Ich setzte mich wieder zu meinem Buch, in dem ein Zug pfiff. In dem Buch hatte ein Zug soeben gepfiffen und in der Realität ist draußen gerade ein Zug im Begriff zu pfeifen. Man eilt draußen zum Bahnhof. Ich freue mich, nicht unter ihnen zu sein. Vielleicht ist eine Unmenge von Leuten dort. In solchen Fällen bin ich immer sehr ungeschickt. Vielleicht würde man sogar auf mir herumtrampeln. Was für ein Unglück wäre ein Misserfolg! Hier im Laden ist es viel besser. Ich kann mich auch auf das Buch konzentrieren. Ich habe sogar die aussetzende Pendeluhr wieder in Gang gebracht. Es ist schon spät. Nun kommt gleich der kühle Wind auf. Zu solchen Zeiten schließe ich eigentlich die Ladentür. Jetzt habe ich dazu keine Lust.
    Mir scheint, man bereitet in dem Buch das Ausrauben des Zuges vor. Die Lokomotive, die soeben pfiff, beginnt nun in der Wegkurve zu erscheinen. Die Männer mit den grausamen Gesichtszügen, die gerade ihre Pferde an die Bäume gebunden haben, legen sich nun versteckt neben den Schienenstrang. Jetzt kommt mir in den Sinn, wie viele Sachen und Taten ich noch nicht einmal versucht habe. Na, ich denke nicht gerade an das Ausrauben eines Zuges, doch sicher gibt es vieles, was ich ausgelassen habe.
    Der Oberst schreitet gerade in diesem Moment am Laden vorüber.
    "Mein Lieber, als ich in ihrem Alter war...", sagt er zu jemandem. Er sagt es ein wenig entrüstet, doch gleichzeitig auch wohlwollend. Es gefällt mir, dass auch er sich in der konfusen Situation seine gewohnte Art bewahrt hat. Doch mir fällt auf, er hat vergessen zu bezahlen. Ist er doch etwas durcheinander? Ich musste lächeln. Ich verspürte Genugtuung über die Pendeluhr. Was passierte, wenn ich ihm nachginge? 'Verzeihen sie, mein Herr! Zwei Schachteln...'.
    'Oh, zum Teufel noch mal!', würde er sagen. 'Ich muss völlig durchgedreht sein in diesem verdammten Umsturz!'
    Nein, es wäre nicht gut. Ich sollte ihn lassen. So kann ich mich ein wenig überlegen fühlen. Und was wird mit dem Geld? Wer weiß.
    Unterdessen scheint mir, man bereitet im Buch doch keinen Raubüberfall vor. Man will sich nur verbergen. Inzwischen ist es auf der Straße still geworden. Ich blickte auf die Uhr. Nur drei Minuten fehlen noch. Ich wollte weiter lesen, doch meinen Füße zuliebe, zog ich es vor zu laufen. Langsam spazierte ich auf die Straße hinaus. Nicht ein einziger Stern zeigte sich am Himmel. Ja, das Radio hatte vorausgesagt, dass es so käme. 'Es ist mit starkem Nebel zu rechnen.' In gemessenem Schritt ging ich auf die gegenüberliegende Seite. Von dort aus konnte ich den See erkennen. Überall beklemmendes Schweigen. Von fern, aus der Richtung des Bahnhofes, ist zu hören wie der Zug langsam anfährt. Wäre ich bei den Gleisen, versuchte ich es. Ich würde mich hinlegen, wie man das in dem Roman macht. Was für ein Gefühl muss es sein, wenn man sich versteckt?
    Langsam fing es an zu regnen. Auch das hatte das Radio vorausgesagt. Ich ging los zum Seeufer. Vor dem Haus des Generaldirektors hielt ich an. Es war eine riesige, pompöse Villa. In der Vorhalle brannte eine Lampe. Ich konnte sie durch die Tür sehen, die man auf ließ. Auf dem Fußboden lagen chaotisch Gegenstände, Papierzeug, Kartons und alle möglichen Dinge verstreut. Ich ging hinein durch die Gartentür. Nun, zum ersten Mal machte ich einen Besuch im Hause des Generaldirektors. Ich ging hinein in die Vorhalle, watete durch die Sachen hindurch, die unter meinen Schuhen knirschten und schaltete die Lampe aus. Ich meine, die Unordnung ist nicht zu ertragen.
    Als ich wieder im Garten stand, drang irgendein schräger Gesang an mein Ohr. Erwartungsvoll lauschte ich. Er kam aus der Richtung des Sees. Da, ich erkannte die raue Stimme der Bettlerin. Sie ist immer betrunken. Ich entdeckte sie dabei, wie sie sich durch die Gärten hindurchschlängelte. Arme Frau. Sicherlich verpasste sie den Zug. Oder nicht? Kann sein, auch sie will bleiben. Wir blieben zu zweit in der schweigenden Stadt. Der Regen wurde dichter, ein dicker Regentropfen traf meine Zigarre. Ich warf sie weg. Ich ging wieder zurück zum Laden. Die Blätter hingen kraftlos von den Bäumen herab, wie die Füße von toten Gänsen. Eine ungeheure Öde liegt über der Stadt, die ihre Bewohner verliert. Zuerst wollte ich die Tür hinter mir schließen. Dann ließ ich sie trotzdem offen.
    Ich glaube, ich werde heute ein Schlafmittel nehmen. Ich erinnere mich, einige Pillen sind noch da.
    Ob es sich lohnte, darauf zu warten, was geschieht?