Wie Tannen

     Letztendlich konnte ich wieder allein sitzen. Auf meinem Rock lag mein Vorwandroman, der sich immer geheimnisvoll auf der zweiundzwanzigsten Seite öffnete. Indem ich so tat, als läse ich das Buch, schirmte ich bis jetzt meine Einsamkeit und meine Gedanken erfolgreich ab.
    Jemand kam auf die Veranda. Der Schauspieler. Langsam kam er heran und warf sich plötzlich in den Sessel, der neben mir stand. Er war schlecht gelaunt. Er krallte die Hände zusammen, atmete laut und asthmatisch. Wieso kann ein Schauspieler schlechte Laune haben? Unsere achtzig bis hundert Hotelnachbarn verehren ihn. Sie bewundern an ihm, dass er er selbst ist. Wenn man ihn getroffen hat, kann man danach sagen: Ich bin ihm begegnet! Stellen Sie sich vor!" Das ist eine hübsche kleine Sache zu erzählen: Ich begegnete ihm. Das ist schon etwas. Ich begegnete dem Schauspieler, Sie wissen, der..., in dieser Situation kann jeder sein Gesicht beliebig verändern, von Rolle und Erinnerung abhängig, ein ironisches Lächeln aufsetzen oder ein begeistertes Lachen, eine triumphierende oder freundschaftliche Miene, einen Liebe bekennenden oder teuflischen Blick. Doch was mit so vielen Gesichtern anfangen?
    Heimlich beobachtete ich den Schauspieler. Es scheint mir, als mache er jetzt überhaupt kein Gesicht, als sei er nur in sich zusammengesunken und fegt mit den Fingern Unsichtbares von seinen Knien. Es ist seltsam. Ich hatte immer geglaubt, dass die Schauspieler keine eigenen Gesten haben. Na, ist auch nicht wichtig. Ich blätterte weiter, um nicht immer bei Seite zweiundzwanzig stehen zu bleiben.
    Einige Dinge in der Welt kommen mir merkwürdig vor. Zum Beispiel erscheinen mir die Schrift und das Wort hin und wieder verdächtig. Zeichen eines Kompromisses, doch warum gerade diese? Existieren nicht vielleicht viel richtigere und einfachere Buchstaben? Und Stimmen? Und Worte? Soll man bei den vorhandenen ausharren, wenn in einer anderen Welt vielleicht die richtigen gebraucht werden? Und was wäre, wenn die Weltzivilisation ausstürbe, ohne dass wir die echten Buchstaben gefunden haben? Was wäre, wenn ich den Schauspieler darüber befragte? Ich denke, wir könnten uns über solche Dinge unterhalten. Vielleicht würde er sagen, die Wege des Schicksals seien unergründlich." Und wenn ich aufrichtig sein soll, er hätte recht damit.
    "Ich werde gleich wahnsinnig wegen diesen Kreuzen!", fing der Schauspieler neben mir an zu sprechen, mit der Hand zur Mauer weisend. "Es war sicherlich ein Geisteskranker, der sie dort angebracht hat."
    Ich spielte nicht weiter die Dame, die auf der Bank sitzt und sich, von jemandem beim Lesen gestört, ausruht, da der Satz mich überraschte. Ich warf einen Blick auf die Kreuze: Nein, sie störten mich nicht, sie waren sogar...
    "Ich weiß nicht", sagte ich zu dem Schauspieler, "die Kreuze machen mich kein bisschen verrückt. Möglich, dass sie sich hinter der Mauer fortsetzen, als eine Art Wasserfleck, oder Ähnliches".
    Der Schauspieler wischte weiter den Staub von seinen Knien. "Haben Sie schon einmal ein Flugzeug während einer Übung gesehen?" Auf diese Frage schickte sich keine Antwort. Ich schwieg.
    Plötzlich schrie er unerwartet glühend: "Und warum hängen Sie hier herum? Warum machen Sie nicht mit den anderen die Gegend unsicher?"
    Wegen dieser Frage wurde er mir sympathisch. Bis jetzt hatte er mich nicht interessiert, weil er genau dem entsprach, was man sich von einem Schauspieler vorstellt.
    Ich sagte freundschaftlich: "Halten Sie den Mund. Das geht Sie nichts an."
    Ich entdeckte eine Spinne am unteren Ende einer der glatten Holzsäulen der Veranda. Schnell kroch sie auf dem spiegelglatten Weg nach oben. Auch der Schauspieler bemerkte das Insekt und wir starrten es gemeinsam an.
    "Ich bin fix und fertig", sagte er kurz darauf schwermütig. "Alles ist so langweilig, so unsagbar langweilig. Ich glaube, ich werde nach Hause fahren."
    Die Spinne zögerte auf der Mitte der Säule, dann führte sie ihren Weg fort.
    Der Schauspieler fing wieder an: "Haben Sie schon einmal versucht beim Marschieren die Hände zu schwingen? Absichtlich. Genau nach dem Rhythmus der Schritte? Verstehen Sie mich? Ja, so ein Gefühl habe ich manchmal auf der Bühne. Ich verliere den Rhythmus und rudere in der Luft, um ihn wiederzufinden. Als wäre ich ein bodenloser Brunnen, aus dem meine Stimme erschallt...", klagte er.
    Die Spinne kroch weiter nach oben und hielt dann unter dem Kopfstück an. Sie verharrte auf dem polierten Holz scheinbar für immer. Mir war sofort klar: Sie dachte, sie sei oben angekommen.
    "Mich ekeln die Rollen, die ich spiele. Genauer gesagt, nicht sie. Das, was ich aus ihnen mache. Verstehen Sie mich? Ich entehre sie. Ja, ich entehre sie", sagte er in vergnüglicher Selbstzerfleischung. Er wiederholte: "Ja, ich entehre sie, anstatt ihnen Leben einzuhauchen. Ich sauge ihre Seelen aus, damit halte ich mich am Leben." Er macht eine resignierende Geste. Ich hörte seinen Atem.
    "Ich weiß, dass ich schlecht bin. Ich tue meine Pflicht, aber schlecht. Da fehlt etwas, aber ich weiß nicht, was?"
    Die Spinne wählte für sich den unbequemsten Platz aus. Wenn sie noch ein wenig weiter gekrochen wäre, könnte sie sich vielleicht verbergen. Doch nun erstrahlte sie auf dem glatten Holz wie ein Juwel. Blöde Spinne.
    "Umsonst bemühe ich mich, ich kann nicht erraten, was da fehlt."
    "Vielleicht haben Sie sich verbraucht...", sagte ich zu ihm, und dachte dabei auch an mich. "Sie haben sich einfach aufgezehrt, wie wohl jeder in der Welt. Wir alle verdauen uns selbst. Aber das wissen Sie ja."
    "Ich bin nicht von dem Schlag, der sich selbst verdaut. Ich bin ein blutgieriger Parasit, ich sauge die Nahrung aus meinen Rollen, ich sagte das ja. Wenn man mich aus dem Theater fortschickte, müsste ich sterben. Ich stürbe vor Hunger. Ich würde elendiglich verrecken."
    "Aber man schickt Sie nicht fort. Sie sind ja einer von den Erfolgreichen. Oder irre ich mich da?"
    "Wollen Sie mich beleidigen? Sie wissen doch gut, wer ich bin!"
    "An der ganzen Angelegenheit ist am merkwürdigsten, dass offenbar keiner etwas bemerkt", sagte ich. "Das ist seltsam. Nicht wahr? Ob es irgendjemanden interessiert, was Sie tun? Und wie Sie es tun? Und wie sehr Sie mit sich ringen? Wenn die Produktionen von echten Wert wären, hätte man schon seit langem ihre Anstrengungen bemerkt."
    "Nein", sagte er besinnlich, "hmh, nein... diese Zuschauer, sie merken nichts." Und er starrte mich an.
    Das war der Moment, als ich anfing zu glauben, es liege etwas in der Luft, und wir werden gleich einige aufrichtige Worte wechseln. Heute ist alles ohne Sinn, nur nicht diese kurze Begegnung. Nun würden gleich einige ehrliche Worte folgen. Wir brauchen sie so sehr; sie halten uns am Leben.
    Ich wollte den Schauspieler fragen, was er meint, wie es jetzt um das Glück steht? Ist das Glück in der heutigen Zeit von Schuld beladen? Oder im Gegenteil: die einzige Möglichkeit, um unschuldig zu werden? Und was denkt er über die Wunder? Richtiger, über die Fähigkeit an Wunder zu glauben? Ob wir durch den Glauben der Welt schaden? Oder schaden wir nur uns selbst? Und außerdem wollte ich noch seine Meinung über die Grade von Resignation erfahren. Und ob seiner Meinung nach dieses Ausgebranntsein eine Eigenschaft dieser Zeit sei. Bei Gott!
    Doch dieser leidenschaftliche und erfüllte Augenblick ging vorüber, wie allgemein die Augenblicke vergehen. Ich schwieg. Wahrscheinlich deshalb, weil es für mich schwierig war, die Gedanken in Worten auszudrücken. Weil ich mich niemals mit solchen Dingen beschäftigt habe. Meine schwierigen Jahre zwangen mich, mich zu verbergen.
    "Sind Sie erschöpft?", hauchte ich, die Vorsicht außer Acht lassend. "Ja, wenn ich helfen könnte..."
    Sein Gesicht bedeckte sich plötzlich mit einem klebrigen, veilchenfarbigen Theaterlächeln. "Meine Beste. Sie sind wirklich lieb", sagte er in einem Ton, als trüge die Hausfrau jetzt auf einem Tablett verlockende Nachspeisen herein und der Gast äußerte dazu: 'Meine Liebe'. Oder vielleicht so: 'Oh! Was für ein wunderschönes...', während er unterdessen schon anfängt darüber nachzudenken, wie viel er davon herunterschlingen könne, ohne seinen guten Ruf zu verlieren.
    Der Schauspieler erweiterte sein herzbetörendes Lächeln noch und legte seine Hand mit einer raschen Bewegung auf mein Knie.
    "Ich ahnte ja nicht einmal, dass ich in diesem langweiligen Hotel eine so liebe..."
    Wie untalentiert er ist. Er fiel total aus der schwermütigen Rolle, er lügt ganz genauso wie alle Schmierenkomödianten. Ihm ist es jetzt schon wieder völlig gleich, wie sehr er sich der Wahrheit noch vor wenigen Minuten angenähert hat. Sieh an, er spielt eine neue Rolle. Jetzt ist er der triumphierende, bezaubernde Mann, dem es ab und zu gefällt, sich an ein einsames Weib zu verschenken, für einen erfrischenden Beischlaf, vielleicht garniert mit einigen Seelenergüssen, wenn sie unvermeidlich sind. Ich konnte meine Stimme kaum wiederfinden: Gehen Sie zur Hölle."
    Wir sind alle geschmückte Weihnachtstannen. Wer hat schon einmal versucht, eine geschmückte Tanne anzuheben? Der Baumschmuck klingelt prahlerisch, klagend säuseln die Zweige, es regnet kleine Nadeln. Wir alle sind geschmückte Weihnachtstannen und dennoch wären wir lieber schlanke, leichte, freie Bäume. Und doch harren wir aus bei unserem Schmuck, bei unseren Bonbons, bei den falschen Sternen, bei der Baumspitze, die prahlerisch auf der Krone sitzt. Wie gut wäre es, wieder ein junger Baum zu sein. Wie schlank, angenehm duftend, frei und schmucklos ist eine junge Tanne! Warum werfen wir nicht unseren klingelnden, zerbrechlichen, falschen und vergeblichen Tand ab?
    Ich ging nach oben in mein Zimmer. Mein Blick ruhte lange auf den Schlaftabletten.